Blog
Interview

Das Angstmonster an die Hand nehmen - Ein Experteninterview

von Isabelle Scheer am 04. Februar 2021

Deprimierte Frau

Unser Psychologe erklärt, warum das Gefühl der Angst völlig normal und sogar wichtig ist und warum unser innerliches Angstmonster ganz niedlich sein kann.

Wir alle verspüren im Laufe unseres Lebens verschiedene Ängste. Das ist völlig normal und sogar überlebenswichtig, denn diese emotionale Reaktion hilft uns, Gefahren zu erkennen und uns vor ihnen zu schützen. Dennoch wissen die meisten Menschen nur wenig über die Emotion Angst Bescheid und versuchen häufig, diese zu vermeiden. Zusätzlich ist das Thema durch die Corona-Pandemie aktuell sehr relevant, da die Krise bei vielen Menschen Ängste auslöst oder sie verstärkt. Grund genug, dass wir uns bei Caspar Health intensiver mit dem Thema Angst befassen, um Patient*innen mit Ängsten oder Angststörungen zu helfen.

Dafür haben wir uns einen Experten ins Team geholt. Henrik Grobe ist Psychologe sowie psychologischer Psychotherapeut und kommt aus der Fachrichtung der Verhaltenstherapie. Seit sechs Monaten ist er nun bei Caspar Health angestellt. Neben seiner selbstständigen Arbeit mit Patientinnen und Patienten verantwortet er die Entwicklung von psychoedukativen Inhalten in der Caspar-Plattform. Wir haben mit Henrik ausführlich über das Thema Angst gesprochen. Er hat uns erklärt, warum Ängste in der Reha unbedingt berücksichtigt werden sollten, wie die Corona-Pandemie Einfluss auf psychische Leiden nimmt und wie wir alle besser mit Ängsten umgehen können.

Henrik, toll, dass du ein Teil des Caspar Health Teams bist. Was hat dich denn als Psychotherapeut zu uns gebracht?

Das klassische Bild und Arbeitsfeld eines Psychotherapeuten, welches viele Menschen aktuell noch im Kopf haben, verändert sich zunehmend. Ich habe schon immer den Wunsch gehabt neben der reinen psychotherapeutischen Patient*innenarbeit mein Profil zu erweitern.

Henrik Grobe und Isabelle Scheer beim Interview

Henrik Grobe und Isabelle Scheer beim Interview

Besonders durch die Krise im Jahr 2020 wurde das Gesundheitssystem und eben auch die die Psychotherapie zunehmend digitalisiert. Es wird die Zukunft sein, dass man Arbeitsprozesse aus der klassischen Psychotherapie auslagern kann. Wenn ich mir vorstelle, dass es in der Reha bestimmte Vorträge über psychoedukative Inhalte gibt, dann stellt sich mir die Frage, warum diese Vorträge immer face to face stattfinden müssen. Um möglichst vielen Patient*innen Zugang zu psychoedukativen Inhalten zu geben, bieten wir in unserer Caspar Bibliothek daher auch Seminare, zum Beispiel zu dem Thema Stressbewältigung, an. 

Aber warum sollten sich Patient*innen mit orthopädischen Beschwerden Vorträge zur Psychoedukation anhören? 

Nun, tatsächlich sind die meisten Krankheitsbilder ja vielschichtig und beeinflussen das alltägliche Leben. Mit einem kaputten Knie können zum Beispiel viele Sorgen verbunden sein: „Wird mein Knie wieder heile? Was ist, wenn es schlechter wird? Ich kann meiner Arbeit nicht mehr nachgehen – was wird dann aus meiner Familie?“ Die Beschäftigung mit Sorgen kann wiederum zu starken Gefühlen führen, so auch zu Angst. Oftmals steht dies auch in Zusammenhang mit dem Empfinden, die Kontrolle zu verlieren und ausgeliefert zu sein.

Angst war eines der ersten Themen, mit denen du dich bei Caspar befasst hast. Warum?

Das liegt an verschiedenen Faktoren. Zum einen ist es so, dass physische Beschwerden oftmals unser psychisches Empfinden beeinflussen und umgekehrt. Zum anderen gehören Angststörungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland. 

Insbesondere liegt es aber auch an der aktuellen Situation. Die Corona-Pandemie mit all ihren Auswirkungen kann Ängste und Angststörungen begünstigen. Denn es ist eine ganz neue Situation, an die wir uns zunächst anpassen müssen und die zu einem starken Kontrollverlust führen kann. Ich erkläre den Zusammenhang gerne mit dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell in Form des Fassmodells. 

Stellen wir uns ein Fass vor, das mit Wasser gefüllt ist. Das Fassungsvermögen verkörpert dabei eine Person und ihre individuelle Verletzbarkeit, auch Vulnerabilität genannt. Jeder Mensch besitzt aufgrund seiner Genetik, vergangenen Erfahrungen und Lernaspekten ein unterschiedliches Fassungsvermögen. Ist das Fass bereits sehr voll, kann es durch einfließendes Wasser schnell überlaufen. Das Wasser symbolisiert dabei akute Belastungsfaktoren wie Konflikte und Stress. Ist eine Person dauerhaft mit Belastungen konfrontiert, dann läuft immer mehr Wasser in das Fass, bis es schließlich überläuft. Die Grenze der psychischen Belastbarkeit ist dann überschritten und es kann zum Ausbruch einer psychischen Erkrankung kommen. 

Durch die Corona-Pandemie werden zusätzliche Belastungen produziert, die dann zu einem kontinuierlichen Zustrom von Wasser in unser Fass führen. Dadurch gibt es ein höheres Risiko, dass die Schwelle überschritten wird. Das sieht man auch daran, dass die Anfragen bei Psychotherapeut*innen explodieren. Und in Zukunft wird das nicht weniger werden. Daher ist es sehr wichtig, dass wir bei Caspar psychoedukative Inhalte zur Verfügung stellen, um das medizinische sowie psychologische Angebot aufrecht zu erhalten. So können wir aufklären und Lücken füllen wo Menschen nicht versorgt werden. Außerdem besteht in der Bevölkerung ein ganz großes Unwissen über Gefühle. Das müsste meiner Meinung nach zum Basiswissen dazu gehören. 

Was ist Angst denn überhaupt? Welche Funktionen hat sie und wann wird Angst zu einem Problem?

Zunächst einmal besteht Angst aus drei Komponenten: Gedanken, körperliche Reaktionen und Verhalten. Diese drei Komponenten kann man sich als Endpunkte eines Dreiecks vorstellen, welche sich alle gegenseitig beeinflussen. Der Zusammenhang lässt sich gut erklären, wenn wir uns vorstellen, in einem Fahrstuhl stecken zu bleiben. Beispielsweise nehmen wir dann Körpersymptome wie Herzrasen, Schwitzen und schnelles Atmen wahr. Wir denken: „Was mache ich, wenn keine Hilfe kommt?“ und versuchen durch Verhalten wie Rütteln an der Tür zu flüchten. 

Angst ist im Allgemeinen ein wichtiges und natürliches Gefühl und es ist in Ordnung, Angst zu haben. Gefühle gehören zum Leben dazu und haben viele überlebenswichtige Funktionen. Angst hilft uns, Gefahren zu erkennen, diese einzuschätzen und uns vor ihnen zu schützen. Nehmen wir zum Beispiel einen Bedrohungsreiz wahr, dann wird unser Körper in Alarmbereitschaft versetzt und eine automatisierte und unspezifische Stressreaktion findet statt. Diese ermöglicht unserem Körper, sich schnell zu mobilisieren und wir sind somit perfekt für eine passende Handlung vorbereitet. Parallel zu diesem Prozess findet eine genaue und langsame Analyse der Situation in unserem Gehirn statt. Kommen wir dabei zu der Bewertung, dass die Situation gefährlich ist und wir ihr nicht gewachsen sind, wird das Gefühl der Angst ausgelöst. Als Folge flüchten wir zum Beispiel aus der Situation. Das ist evolutionär gesehen ziemlich hilfreich, denn wären wir früher frohen Mutes auf einen Säbelzahntiger losgegangen, wäre die menschliche Geschichte wahrscheinlich etwas anders ausgegangen.

Viele Menschen empfinden ihre eigene Angst als lästig und bedrohlich. Ich arbeite daher gerne mit dem Bild eines Angstmonsters. Das Monster ist sehr hartnäckig und läuft uns ständig hinterher. Unsere erste Reaktion ist es, das Angstmonster loszuwerden und wegzustoßen, doch dann wird es wütend. Ziel ist es daher, das Monster an die Hand zu nehmen und Hand in Hand mit ihm als wertvollen Begleiter durchs Leben zu gehen. Denn das Monster möchte uns eigentlich nur helfen und wenn man mal genau hinschaut, sieht es vielleicht ganz niedlich aus. Das Akzeptieren und Annehmen von Gefühlen ist also ein erster wichtiger Schritt.

Das Angstmonster

Das Angstmonster

Schaffen wir es nicht, das Monster an die Hand zu nehmen, kann Angst auch zu einem Problem werden. Das ist der Fall, wenn Angst in ihrer Intensität, Dauer und Häufigkeit unangemessen stark auftritt, das Gefühl der Kontrolllosigkeit besteht und die Angst zu einem erhöhten Leidensdruck führt. Wenn Ängste eine solche Überhand im Leben nehmen, dann sollte man sich informieren und Unterstützung holen. Dafür gibt es zahlreiche Anlaufstellen, wie zum Beispiel Ärzte und Psychotherapeut*innen. Insgesamt ist es wichtig, nicht zu lange zu warten bis man sich Hilfe holt. Denn umso länger sich Beschwerden und Ängste chronifizieren, desto schwieriger wird es, diese zu behandeln. 

Wie können Patient*innen selbst mit Ängsten umgehen? Hast du ein paar praktische Tipps? 

Sehr hilfreich ist das Thema Achtsamkeit. Diese Technik aus dem Buddhismus lehrt, die eigene Aufmerksamkeit gezielt auf den Moment zu lenken. Ziel ist es, diesen bewusst und ohne Bewertung wahrzunehmen und ihn nicht zu beeinflussen. Stellen wir uns zum Beispiel einen Fluss vor, auf dem Boote fahren. Auf diesen sitzen all unsere Gedanken und ziehen an uns vorbei. Wir nehmen sie einfach nur wahr, ohne uns mit ihnen zu beschäftigen und sie zu bewerten. So lernen wir, eine Distanz zu unseren Gedanken und Bewertungen aufzubauen und damit dann langfristig auch zu dem Gefühl. Für Anfänger sind Achtsamkeits-Apps oder die Achtsamkeits-Übungen in der Caspar-Plattform zu empfehlen. Dort gibt es geführte Meditations-Inhalte und hilfreiche Techniken, die dabei unterstützen, mehr Achtsamkeit in das Leben zu integrieren. 

Eine einfache, aber dennoch effektive Methode um Angstsymptome zu verringern, ist außerdem die Atemtechnik Lippenbremse. Starkes Angstempfinden führt zu einer schnellen und flachen Atmung, die wiederum zu Atemnot führen kann. Bei der Methode fokussiert man sich auf eine schrittweise Verlängerung der Ausatmung und reguliert dadurch die Angst Symptome. 

Neben dieser bewussten Atmung ist die Technik des Gedankenstopps zu empfehlen. Besonders unter Angst werden wir von beklemmenden Gedanken und Sorgenketten bedrängt. Um die Gedanken zu unterbrechen können wir innerlich oder laut Stopp sagen. Mithilfe dieser kurzen Unterbrechung ist es möglich, dass wir uns danach angenehmen Gedanken und Dingen zuwenden. Sich immer wieder eine gedankliche Pause zu gönnen ist sehr wichtig, denn unser Gehirn will ständig Probleme lösen und arbeitet auf Hochtouren. Das ist auch gut so, aber manchmal muss es eben in die Schranken gewiesen werden. So auch in der Corona-Pandemie: Die dauerhafte Auseinandersetzung mit dieser verursacht Stress und begünstigt Ängste. Auch damit verbundene Sorgen-Gedanken sollten aktiv unterbrochen werden. 

Die ständige Beschäftigung mit unangenehmen Themen führt grundsätzlich dazu, dass wir unser Angstempfinden fördern und uns zurückziehen oder eine eingefallene Körperhaltung einnehmen. Die eigene Körperhaltung und unser Verhalten sind Faktoren, die wir am einfachsten verändern können, um Angst zu reduzieren. Ein weiterer Tipp ist daher Sport und Bewegung. Wenn wir aufstehen, gerade sitzen, rausgehen und uns bewegen wird der Handlungsimpuls von Angst umgekehrt und damit auch die Körperempfindung verändert. Sport kann im Allgemeinen außerdem Stress und Ängste reduzieren und eine gedankliche Ablenkung schaffen. Im Optimalfall wird die Bewegungseinheit tagsüber draußen an der frischen Luft verbracht. Denn zum einen erhöht Dunkelheit unser Angstempfinden und zum anderen hat das durch die Sonneneinstrahlung produzierte Vitamin D zahlreiche gesundheitliche Vorteile.

Wenn man diese Übungen in den Alltag einbauen möchte, ist es wichtig zu wissen, dass Veränderungen immer anstrengend sind und Zeit brauchen. Da muss man Verständnis für sich selbst haben und eventuell mit kleinen Hilfestellungen arbeiten. Zum Beispiel kann man sich einen „Bewegungs- oder Achtsamkeits-Wecker“ stellen, der regelmäßig an die Übungen erinnert. Für den Anfang ist es aber auch völlig in Ordnung, wenn man nur fünf Minuten am Tag zum Beispiel in Achtsamkeit investiert. 

Wie wird es bei Caspar mit dem Thema Psychoedukation und Angst weitergehen? Kannst du uns einen kleinen Ausblick geben?

Um das Wissen über Angst für möglichst viele Patient*innen zugänglich zu machen, arbeiten wir gerade an einer Seminarreihe zu diesem Thema. In fünf kurzweiligen Workshops möchten wir die wichtigsten Wissensinhalte über Angst und Angsterkrankungen vermitteln und präsentieren hilfreiche Tipps im Umgang mit Ängsten. Die Inhalte richten sich an Menschen, die sich für das Thema interessieren und geben denjenigen, die Ängste und Angststörungen haben, erste Hilfestellungen und Hinweise. Außerdem wollen wir zukünftig noch mehr Achtsamkeitsübungen und ein Seminar zum erholsamen Schlaf anbieten. Insgesamt ist das Feedback unserer Patient*innen zu psychoedukativen Inhalten bereits sehr gut. Die Übungen und Inhalte helfen ihnen, selbst aktiv zu werden und ihre Stimmung zu verbessern. Das ist toll zu hören.

Zukünftig möchte ich noch mehr dafür sorgen, dass man sich mit Caspar zu Hause fühlt. Patient*innen sollen mit der App ein Werkzeug zur Verfügung haben, mit dem sie sich selbst helfen können, ihre gesundheitlichen Ziele zu erreichen und ihre Beschwerden zu verringern. 

Vielen Dank für das interessante Interview Henrik!