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Interview

Atemtherapie haucht uns Leben ein. Ein Interview mit Expert*innen.

von Luisa Schumann am 26. Oktober 2020

Atemtherapie

Wir atmen ständig ein und aus und nehmen diesen Vorgang als gegeben hin. Doch ein bewusster Umgang mit der Atmung wird häufig unterschätzt.

Egal ob wir schlafen, rennen, essen, sprechen oder arbeiten: immer atmen wir. Die Atmung ist lebensnotwendig und wird oft als gegeben hingenommen. Aber was, wenn sie nicht mehr so gut funktioniert? Bei Atemnot oder starkem Husten bekommen wir schnell Panik. Kein Wunder, denn nur eine funktionierende Atmung kann unseren Körper mit ausreichend Sauerstoff versorgen. 

Verschiedene Erkrankungen ziehen die Atemwege in Mitleidenschaft, von einfachem Husten über Asthmaerkrankungen bis zu ernsthaften Lungenentzündungen, wie Sie Covid-19-Infizierte ereilen kann. Damit Betroffene lernen, mit den entstandenen Schäden umzugehen und ihren Alltag zu bestreiten, gibt es die Atemtherapie. Sie hilft jedoch nicht allein Atemwegspatient*innen, auch bei anderen Erkrankungen ist ein bewusster Umgang mit der Atmung wichtig. Trotzdem ist dieses Thema kaum bekannt und wird oft unterschätzt. Wir haben mit einem Pneumologen, einer Atemphysiotherapeutin und einem Sportwissenschaftler über die Atemtherapie gesprochen. 

Es ist ein Freitagmorgen im Oktober, in Deutschland steigen die Infektionszahlen bedenklich. Das Gruppeninterview findet per Videotelefonie statt, Sonja Bernhart ist aus dem Allgäu und Dr. Thomas Munski aus Lübeck zugeschaltet, während Frank Merten sich aus seiner Berliner Wohnung meldet. 

Caspar Health: Frank, du bist ja ein Kollege bei Caspar und von Hause aus Sportwissenschaftler. Vorher hast du selbst ein Rehazentrum geleitet. Wie kommt es, dass du hier als Experte für Atemtherapie sitzt?

Frank Merten: Richtiges Atmen ist essentiell für jegliches Sporttreiben. Als Sportwissenschaftler wurde mir dieses Thema also sozusagen in die Ausbildungs-Kinderschuhe gelegt. Die Atmung ist unglaublich wichtig für einen effektiven Haltungsaufbau und einen koordinierten Bewegungsablauf und gehört als solches auch in jedes gute Bewegungsprogramm. Als im Frühjahr die Pandemie nach Deutschland kam, habe ich im Gespräch mit den Kliniken gemerkt, dass die schwer Betroffenen besonders stark unter dem Shutdown zu leiden hatten: Patientinnen und Patienten mit Herzleiden oder Lungenleiden standen plötzlich vor Nullaktivität, weil sie einfach nicht mehr an Herz- oder Lungensportgruppen teilnehmen konnten. Zum Glück konnten wir sie mit telemedizinischen Trainingsplänen schnell unterstützen, aber es reifte in uns der Wunsch, eine noch tiefergehende Atemtherapie anbieten zu können.

Sonja Bernhart ist Atemphysiotherapeutin bei f+p in Kempten

Sonja Bernhart ist Atemphysiotherapeutin bei f+p in Kempten

Sonja Bernhart: Das haben wir bei uns auch gemerkt. Ich arbeite als Atemphysiotherapeutin bei f+p Therapie in Kempten und habe dann auch gleich zu Beginn der Pandemie versucht, die Lungensportpatient*innen per App und per Videobehandlung zu versorgen. Das hat echt super geklappt!

Dr. Thomas Munski: Ich habe das ganze eher aus der anderen Sichtweise mitbekommen. Seit Ende der 80er Jahre habe ich in einer Hamburger Klinik als Pneumologe und Internist gearbeitet. Nachdem ich 2016 in den Ruhestand gegangen bin, habe ich allerdings noch bei einer niedergelassenen Kollegin in deren hausärztlich-internistischen Praxis mitgearbeitet. Als die Corona-Pandemie nach Deutschland kam, musste ich diese Tätigkeit dann leider aufgeben, weil ich selbst zur Risikogruppe gehöre. Das fand ich sehr schade, weil ich immer gerne Patient*innen betreut habe.

Umso mehr haben wir uns natürlich gefreut, dich als medizinischen Berater zu gewinnen! Aber kommen wir mal zur Atemtherapie: was gehört denn da eigentlich dazu?

Sonja: Bei der Atemtherapie ist es meiner Erfahrung nach vor allem erstrebenswert, dass Betroffene schnell die Anwedung von Selbsthilfetechniken erlernen. Das kann zum Beispiel die Lippenbremse oder die Strohhalmatmung sein. Denn insbesondere Atemnot ist oft sehr beängstigend! Außerdem üben wir atemerleichternde Körperhaltungen und versuchen, die körperliche Belastbarkeit zu steigern. Das hilft vielen schon, ihren Alltag mit weniger Atemnot zu bestreiten. Schließlich ist es natürlich auch wichtig, die Atmung bewusst wahrzunehmen. Auch hier gibt es geeignete Übungen, die wir mit unseren Patientinnen und Patienten üben. 

Nun ist wahrscheinlich den meisten klar, dass Atemtherapie bei Erkrankungen der Atemwege, wie zum Beispiel COPD, Asthma oder nach einer Lungenentzündung angewandt wird. Ist sie auch für andere Gruppen wichtig? 

Sonja: Ja, auf jeden Fall. Ich wende Elemente der Atemtherapie auch bei Patient*innen mit orthopädischen Beschwerden an, die darüber hinaus mit Stress- und Angstsymptomatiken zu tun haben. 

Frank Merten ist Lead Therapist bei Caspar Health

Frank Merten ist Lead Therapist bei Caspar Health

Frank: Auch bei neurologischen Patient*innen ist es wichtig, auf die Atmung einzugehen. Diese haben ja mitunter auch motorische Probleme im Bereich des Schultergürtels und des Thorax. Aber auch für logopädische Behandlungen bei Schluck- oder Sprechstörungen ist die gezielte Atemlenkung wichtig. 

Thomas: Ich habe bei uns auf der Station auch immer gemerkt, dass Atemtherapie den Patient*innen Selbstvertrauen gibt. Sie merken, ich werde körperlich stärker und ausdauernder, aber lernen eben auch, mit Atemnot umzugehen und nicht gleich in Panik zu verfallen. 

Das klingt, als könnten fast alle Patient*innen von dieser Form der Therapie profitieren. Was ist denn mit gesunden Menschen? Wirkt Atemtherapie auch präventiv?

Frank: Ja klar! Bei der Prävention geht es ja darum, den Organismus und den Körper insgesamt in einen guten Ausgangszustand zu versetzen. Wer in der Prävention lernt, effektiv mit seiner Atmung umzugehen durch körperliche Mehraktivität seine Lunge gesund und seinen Körper fit hält, der stärkt insgesamt seine Abwehrkraft. Ich kann nur empfehlen: gehen Sie raus und bewegen Sie sich! Denn dort draußen wartet der Sauerstoff quasi darauf, dass wir ihn inhalieren und in unsere Muskelkraftwerke leiten. 

Es ist ja so, dass bei der physiotherapeutischen Atemtherapie oft Sekret mobilisiert und abgegeben werden soll. Im Klartext: Betroffene sollen während der Therapie husten. Wie funktioniert das in Zeiten von Corona?

Sonja: Das ist genau das Problem. Fast alle Betroffenen mit Atemwegserkrankungen gehören zur Risikogruppe. Wenn ich bei einem Patienten den Brustkorb berühren muss, um die Kontaktatmung zu verdeutlichen, ist es schwierig, die 1,5 m Abstand zu halten. Außerdem ist der Mund-Nasen-Schutz bei diesen Betroffenen spätestens dann hinfällig, wenn sie mit physiotherapeutischen Atemhilfsgeräten trainieren sollen, denn dann müssen sie ihn abnehmen. Aus diesen Gründen habe ich gleich im Frühjahr begonnen, so viele Atempatient*innen wie möglich per Video zu behandeln. 

Dr. Thomas Munski (Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie und Allergologie) hat Caspar zum Thema Atemwegserkrankungen beraten

Dr. Thomas Munski (Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie und Allergologie) hat Caspar zum Thema Atemwegserkrankungen beraten

Thomas: Ich bin auch der Meinung, dass dieses Problem besonders die Atemtherapie betrifft. In keiner anderen Therapieform ist es so sehr Teil des Trainings, dass gehustet und stark ausgeatmet wird. Das ist nun leider in diesen Zeiten wirklich etwas, das Therapeut*innen noch mehr als sonst gefährden kann. 

Frank: Zur Standardtherapie für Atemwegserkrankungen in Rehakliniken gehört die Atemgymnastik in Form von Gruppentherapien. Da sind dann also 10-15 Menschen in einem Raum und atmen immer wieder vertieft ein und aus. Das ist im Moment natürlich undenkbar. Mit der digitalen Therapie kann man das etwas entzerren, dann kann eine Patientin beispielsweise morgens von ihrem Therapeuten eine Technik lernen und sie nachmittags mit der App üben und trainieren.

Sonja: Und das ist wirklich ein Glück, auch in der ambulanten Therapie. Für uns bedeutet die digitale Therapie, dass wir Risikogruppen immer therapieren können. Auch in Zeiten, in denen niemand aus dem Haus gehen sollte. Aber: man kann die Patient*innen dabei nicht berühren und auch das ist manchmal wichtig. Die digitale Therapie ist eine große Chance, aber alles kann man damit nicht ersetzen. 

Frank: Ganz genau. Eine richtige Anleitung ist ganz entscheidend. Bestimmte Techniken müssen vorher erklärt und geübt werden und eine Fachperson muss auf Schlüsselpunkte achten. 

Welche Faktoren sind noch wichtig, um im Alltag aufatmen zu können? 

Thomas: Ein ganz wichtiger Punkt ist für mich die Zeit. Nach einer schwerwiegenden Lungenerkrankung oder bei chronischen Leiden ist die Leistungsfähigkeit vieler Betroffener anfangs sehr schlecht. Sie müssen dann durch Training erst einmal wieder an Selbstvertrauen gewinnen. Allerdings ist es wichtig zu verstehen, dass so ein Training Zeit braucht, denn das Trainingspensum sollte nur langsam gesteigert werden. Mit einer sinnvollen Zielsetzung verspüren sie dann auch schon bald Erfolge. 

Sonja: Dazu gehört auch, dass Bewegung eine positive Erfahrung sein soll. Viele Betroffene bekommen schon über Jahre schwerer Luft, bevor sie merken, dass sie eigentlich krank sind. Bis dahin haben sie sich aber gewisse Dinge schon abgewöhnt. Wanderungen werden zum Beispiel vermieden, weil man merkt, dass man nicht mehr hinterher kommt. Das führt natürlich zu Unzufriedenheit. Dann muss man bewusst machen: es ist vielleicht nicht mehr so wie früher, aber schau mal, du kannst trotzdem schon wieder sehr viel! Mit einer adäquaten Atemtechnik und einem angepassten Gangtempo kannst du noch ohne Atemnot ein gutes Stück bergauf gehen. Auch, sich ohne Atemnot die Schuhe anziehen zu können, kann schon ein Erfolg sein. Man muss es eben nur benennen!

Wie wichtig ist das Umfeld?

Sonja: Meine Erfahrung ist, dass die soziale Anbindung extrem wichtig ist. Angehörige und Familie sollten auch verstehen, was da passiert. Bei einem gebrochenen Fuß zum Beispiel sieht man: da ist ein Gips, die Person benutzt Gehhilfen, es muss also etwas im Argen sein. Menschen mit Atemwegserkrankungen sehen meistens erst einmal gesund aus. Deswegen ist es wichtig, dass auch Angehörige gut über die Krankheit informiert sind.

Frank: Und hier sind wir auch wieder bei der digitalen Therapie: während Betroffene normalerweise einen Vortrag über ihre Erkrankung in der Klinik hören und sich dann bestensfalls selbst die wichtigsten Informationen merken, haben sie bei der Teletherapie den Vortrag auf dem Handy oder Tablet und können ihn mit nach Hause nehmen. So können sich auch Angehörige diesen Vortrag ansehen und sind so besser informiert. 

Zum Abschluss: Welches sind eure persönlichen Lieblingssportarten im Bezug auf die Atmung?

Thomas: Ich rudere sehr gerne. Das ist eine Herausforderung für den ganzen Körper. Außerdem habe ich dieses Jahr Yoga für mich entdeckt und mache das jetzt jeden Tag. 

Sonja: Ich schwimme sehr gerne!

Frank: Als ehemaliger Leistungssportler muss ich hier natürlich auch Schwimmen sagen -  das mache ich immer noch sehr gerne. Aber ich bin auch ambitionierter Bogenschütze und auch dafür ist die Atmung sehr wichtig!

Vielen Dank euch allen für das Gespräch!