Vom Schlag getroffen, behandelt und dann ins Leben entlassen
von Jann Gerrit Ohlendorf am 05. Oktober 2023
Die Nachsorge von neurologischen Patient*innen birgt noch großes Potenzial
In der Neurologie könnten viel mehr Menschen vom Einsatz digital unterstützter Therapiekonzepte profitieren. Eine Nutzungsempfehlung bietet dazu Orientierung. Die vom Forschungs- und Entwicklungsteam bei Caspar Health erstellte Nutzungsempfehlung zeigt, wie Partnerkliniken ihr Angebot mit der Caspar Software und der virtuellen Caspar Clinic für Neurologie-Patient*innen ausbauen und Versorgungslücken schließen können.
Neurologische Erkrankungen werden oft in ihrer Bedeutung unterschätzt, obwohl laut einer Studie von 2020 aus dem Fachblatt “The Lancet” mit 60 Prozent mehr als die Hälfte der Bevölkerung von neurologischen Erkrankungen betroffen ist. Die große medizinische Bedeutung zeigt sich auch daran, dass die Deutsche Rentenversicherung (DRV) der angemessenen Behandlung des Schlaganfalls einen der sieben Reha-Therapiestandards (RTS) für Erwachsene gewidmet hat. Noch anschaulicher werden die Dimensionen beim Blick auf die Zahlen dahinter: Jedes Jahr erleiden in Deutschland 260.000 Menschen einen Schlaganfall. Das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl von Mönchengladbach.
Schlaganfälle sind für die Betroffenen ein gravierender Einschnitt mit oft erheblichen Konsequenzen für das Leben danach - wenn sie ihn überleben. Für das Gesundheitssystem sind sie eine große Herausforderung. Ein gesunder Lebensstil kann das Risiko eines Schlaganfalls deutlich verringern. Prävention ist also angeraten und medizinisch wichtig ist neben einer adäquaten Behandlung auch die Nachsorge. Doch daran hapert es.
Nur eine*r von fünf Patient*innen, der oder die zu einem spezifischen Nachsorgeprogramm wie der Intensivierten Rehabilitationsnachsorge (IRENA) der DRV berechtigt wäre, nutzt die im Anschluss an die Rehabilitation auf das Krankheitsbild ausgerichtete Nachsorge.
Filippo Martino, Chief Medical Officer von Caspar Health erklärt, warum neben Schlaganfall-Patient*innen auch Betroffene anderer neurologischer Krankheitsbilder versorgt werden können - und welche Grenzen der digitalen Therapie gesetzt sind.
Zur Person
Dr. med Filippo Martino ist Chief Medical Officer bei Caspar Health und Leiter der Caspar Clinic, digitales Centrum für Gesundheit. An der Versorgung von Patient*innen mit Schlaganfällen hat er auf der Stroke Unit, einer spezialisierten Abteilung für die Behandlung von Schlaganfällen der Universitätsklinik in Dresden, als Arzt selbst mitgewirkt. Im Vergleich mit einem späteren Aufenthalt an einer renommierten Universitätsklinik in China sagt Filippo: “Deutschland leistet in der Akutversorgung von Schlaganfällen im internationalen Vergleich gute Arbeit; auch die Rehabilitation hat bei uns eine hohe Qualität. In der Nachsorge setzt sich das aber leider nicht immer fort.”
Nach so einem gravierenden Einschnitt wie einem Schlaganfall müssen sich die Betroffenen mühsam ihr Leben in der Gemeinschaft zurückerobern. Ist es dann nicht eine Überforderung, zusätzlich auch noch eine App bedienen zu müssen?
Viele der Patient*innen haben, wenn sie in der Nachsorge ankommen, bereits von der guten Behandlung als Schlaganfallpatient*in profitiert und sind auch in der Lage, grundlegende Funktionen eines Smartphone wieder zu nutzen. Klar ist: Diejenigen, die schwerst betroffen sind und auch in ihren Alltagstätigkeit weiterhin wesentlich beeinträchtigt sind, brauchen zumindest ergänzend Hands-on-Therapien wie beispielsweise eine ambulante Physiotherapie.
Wir haben mit der Nutzungsempfehlung die vielen Patient*innen im Blick, die mit der Nutzung eines Smartphones nicht überfordert sind. Dazu kommt: Das durchschnittliche Alter von Patient*innen in der Nachsorge der DRV ist eher jünger, weshalb die Nutzung von Smartphone, Tablet oder Computer schnell wieder Teil der Alltagsroutine wird. Das alles spielt ja meistens auch eine wesentliche Rolle in ihrem Berufsleben.
Die App ist die Brücke zur Therapie und zu den persönlichen Bezugstherapeut*innen unserer virtuellen Caspar Clinic. Sie ermöglicht einerseits den Kontakt, erfüllt zugleich auch zwei Voraussetzungen, die bei der Therapie ganz besonders wichtig sind: Erstens die individuelle Ausrichtung und Zusammenstellung der Therapie und zweitens die fortlaufende Anpassung auch an Änderungen des Zustands, wie er für die begleitenden Therapeut*innen in der App sichtbar ist. Dadurch wird es ermöglicht, diese Patient*innengruppe mit derselben Indikation, aber ganz unterschiedlicher individueller Ausprägung der Symptome gezielt und effektiv zu versorgen.
Nicht nur Schlaganfallpatient*innen profitieren von digitaler Behandlung, heißt es in der Nutzungsempfehlung. Wie funktioniert die dafür praktische Anpassung der Therapie?
Der Schlaganfall ist wie eine Art Blaupause auch für andere Behandlungen. Denn ob ein Organ durch ein plötzlich eintretendes Ereignis wie den Schlaganfall geschädigt ist oder durch einen entzündlichen Prozess, wie er für die Multiple Sklerose typisch ist: Am Ende kommt es darauf an, Einschränkungen der Alltagstätigkeiten und Beeinträchtigungen wirksam zu verbessern. Deshalb können unsere Partnerkliniken auf dieser Grundlage auch ihren neurologischen Nachsorgepatient*innen in anderen Indikationen ein flexibles und zeit- und ortsunabhängiges Training anbieten - und aktiv dazu beitragen, dass endlich mehr Patient*innen Zugang zu der heute möglichen effektiven Therapie und Nachsorge erhalten.
Neben der flexiblen Anpassung der Therapie auf individuelle Beschwerden zu Beginn der Nachsorge kann auch der weitere Verlauf der Genesung sehr individuell begleitet werden. So können unsere Bezugstherapeut*innen beispielsweise die Übungen verschiedener Schwierigkeitsgrade sowie Trainingsintensität individuell steuern. Das ist wichtig, um Patient*innen individuell an ihrem Ausgangspunkt abzuholen, aber dann auch im Verlauf individuell zu fördern und fordern zu können. Nur so kann gemeinsam auf das bestmögliche Ergebnis hingearbeitet werden.
Welche Einschränkungen müssen Kliniken etwa bei kognitiven Störungen ihrer Patient*innen beachten?
Grundsätzlich ist es uns ein Anliegen, auf die breiten Anwendungsmöglichkeiten der Kombinierten Versorgung, also der Verbindung von digital unterstützten Training und der Begleitung durch medizinisch-therapeutisches Fachpersonal für die Neurologie aufmerksam zu machen. In großen, teils randomisierten Studien zeigt sich, dass die digitale Nachsorge hier keinesfalls unterlegen ist, sondern gleichwertig gute Ergebnisse aufweist.
Einschränkungen gibt es, die lassen sich auch klar benennen: Schwere Sprachverständnis-Störungen oder schwere dementielle Einschränkungen sind in der digitalen Therapie definitiv eine Herausforderung. Das qualifizierte Fachpersonal in unseren Partnerkliniken kann gut einschätzen, für welche Patient*innen eine aussichtsreiche digitale Nachsorge möglich ist. Unserem Eindruck nach wird das Potenzial für die neurologische Nachsorge jedoch noch unterschätzt. Auch Patient*innen mit leichten kognitiven Störungen können gut mit unserer intuitiv aufgebauten App zurechtkommen. Ein ergänzendes neurokognitives Training in einer ambulanten Einrichtung durch Neuropsycholog*innen oder Ergo-Therapeut*innen kann die Behandlung sinnvoll abrunden. Einer digitalen Nachsorge steht das nicht im Wege.