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Interview

Rückenfit durch den Alltag: Was wirklich hilft

von Luisa Conroy am 15. Mai 2024

Unser Sportwissenschaftler Laurence Wacker räumt mit alten Vorstellungen auf und erklärt, wie wir gut in Bewegung bleiben

Rückenschmerzen sind heute leider immer noch eine Volkskrankheit. Fast jede*r leidet mindestens einmal im Leben an Schmerzen im Rücken - sie sind der zweithäufigste Grund, den Hausarzt oder die Hausärztin aufzusuchen. Wer das vermeiden will, versucht, sich im Alltag rückenschonend zu verhalten. Doch was bedeutet das eigentlich? Stimmen die Empfehlungen noch, die wir im Kopf haben? Und was empfehlen Caspar Clinic Therapeut*innen ihren Patient*innen?


Das haben wir Laurence Wacker gefragt. Der 28-Jährige ist Sportwissenschaftler, hat seine Abschlussarbeit zum Thema Rückenschmerzen geschrieben und arbeitet seit drei Jahren als Therapeut bei Caspar Health. 



Lieber Herr Wacker, wenn ich “Rückenschonendes Verhalten” in meine Suchmaschine eingebe, erscheint als erster Eintrag: “Halten Sie den Rücken bei allen Verrichtungen gerade”. Stimmt das so? 

Absolut nicht. Das ist schade, denn hier finden Sie die Rückenschule von vor 30 Jahren. Die ist inzwischen wissenschaftlich überholt! Damals hieß es tatsächlich: “Hauptsache gerader Rücken, niemals beugen!” Ich sage dann immer: die Wirbelsäule ist nicht der Oberschenkelknochen, sondern ein dreidimensionales Gebilde. Sie kann sich in alle Richtungen bewegen und das sollte sie auch. Das ist ganz grundlegende Physiologie.

Was würden Sie also jetzt empfehlen?

Generell gilt: vielfältig im Alltag bewegen, gezieltes Krafttraining machen. Das hilft dem Rücken schon ungemein! Wenn es um spezifische Themen geht, kommen häufig Fragen zum richtigen Sitzen und Heben. Beim Sitzen hilft der Leitspruch: Die beste Position ist die nächste. Wir müssen also nicht steif mit geradem Rücken am Schreibtisch sitzen, sondern sollten viel eher regelmäßig die Position wechseln. Mal gerade sitzen, mal lümmeln, mal stehen oder herumlaufen. 

Beim rückengerechten Heben von Lasten wiederum ist es erst einmal wichtig, keine Angst zu haben. Rückenschmerzen, vor allem chronische, entstehen oft aus einem Vermeidungsverhalten heraus. Wer nicht regelmäßig Krafttraining macht, sollte zu Beginn möglichst den Rücken gerade halten und aus den Beinen heben. Wenn der Rücken aber kräftiger wird, ist es durchaus erlaubt, auch mal mit rundem Rücken zu heben oder eine Drehbewegung einzubauen. 

Warum darf ich mit gekräftigtem Rücken anders Heben als ohne Training?

Die Wirbelsäule und ihre umgebenden Strukturen funktionieren nach dem Grundsatz “Form follows function”. Wenn ich meinen Rücken nie in einer bestimmten Bewegungsrichtung nutze und es dann gleich mit Gewicht versuche, zum Beispiel, wenn ich eine Wasserkiste anhebe, dann kann es schonmal zu Verletzungen kommen. Wenn ich aber meinen Rücken regelmäßig in allen Bewegungsrichtungen kräftige, ist das Risiko deutlich geringer.

Was passiert denn, wenn ich mich nach den alten Empfehlungen verhalte und mit möglichst geradem Rücken, also ohne Drehungen, durch den Tag gehe?

Erst einmal nichts. Aber einige Strukturen werden sich über die Zeit abbauen. Da ist zum Beispiel der Faserring der Bandscheibe. Die Kollagenfasern, aus denen er besteht, sind rotatorisch angeordnet. Wenn ich nie Drehbewegungen mache, werden diese abgebaut. Was noch dazu kommt: Wir alle führen Bewegungen wie die Rotation ja früher oder später durch, zum Beispiel wenn wir schnell einen herunterfallenden Gegenstand auffangen wollen. Hier haben wir dann den gleichen Grundsatz wie schon beim Heben: Wenn der Rücken die Bewegung nicht gewöhnt ist, kommt es eher mal zu einer Verletzung. 

Wann haben sich denn die Empfehlungen zum rückenschonenden Verhalten geändert und wie kam es dazu? 

Das ist schon eine ganze Weile her! Die Erkenntnisse gibt es schon länger, aber die neue Rückenschule der großen Rückenschulverbände in Deutschland wird seit 2006 gelehrt. Allerdings sagt man, dass es ungefähr 20 Jahre dauert, bis die Theorie in der Praxis ankommt.  Auch bei Caspar Health stellen wir immer wieder sicher, dass unsere Therapeut*innen Therapiepläne nach den Grundsätzen der neuen Rückenschule gestalten. Um immer am Ball zu bleiben, führen wir regelmäßige Audits unserer Bibliothek durch - und ja, auch da werden ab und an Videos ersetzt.
Zum zweiten Teil der Frage: Die jetzt geltenden Empfehlungen zum rückenschonenden Verhalten beruhen vor allem auf dem, was inzwischen gesichertes Wissen über die Wirbelsäule und ihre umgebenden Strukturen ist. Auch wissen wir heute viel mehr über die Funktion von Knochen und Muskeln als noch vor 30 Jahren. 

Welche Empfehlungen in Bezug auf den Rücken haben sich denn noch verändert? 

In dem Bereich gibt es einige sehr hartnäckige Mythen, über die ich in einem früheren Interview schon einmal ausführlich gesprochen habe. Über die Jahre haben wir einfach gelernt, dass jeder Mensch irgendwann Rückenschmerzen bekommt; in vielen Fällen gehen sie aber von allein oder mit Bewegung wieder weg. Menschen, die mit akuten Schmerzen zur Ärztin oder zum Arzt gehen und dann eine unspezifische Diagnose erhalten, sind oft enttäuscht. Dabei ist eine Diagnose wie “LWS Syndrom” eigentlich ein Grund zur Beruhigung, wenn nicht sogar zur Freude! Denn sie sagt uns: Da ist nichts Ernstes. Mit Bewegung und einem gesunden Lebensstil kann ich die Schmerzen wieder loswerden. Auch die Psyche spielt hier mit rein. Wir müssen Patient*innen also in erster Linie die Angst vor Bewegung nehmen.

Was möchten Sie den Leser*innen noch mitgeben, Herr Wacker?

Es ist immer noch ein Irrglaube zu denken, ein “gerader Rücken bei allem" sei das Beste. Das Wichtigste ist: Bewegung und Kräftigung in jedem Alter. Trauen Sie sich, auch kleine Bewegungsziele zu setzen, denn auch die kleinsten Erfolge verhindern mögliche Schmerzen. Die neue Rückenschule hilft da zusätzlich, das Verhalten im Alltag anzupassen, weil sie viel realitätsnaher ist. So wird mir das zumindest in meinen Vorträgen bei Caspar durch dankbar aufgenommene Aha-Momente der Patient*innen gespiegelt. Und damit sind wir definitiv auf einem guten Weg.