Schmerz und Psyche – 4 Mythen zu chronischen Schmerzen
von Verena Kalb am 26. August 2022
Ob nach einem Unfall, einer Krankheit oder auch ohne spezielles Ereignis: Viele Reha-Patient*innen leiden unter chronischen Schmerzen. Das hat nicht immer eine körperliche Ursache, denn die Psyche spielt hier eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Wir möchten heute einige Mythen zum Thema chronische Schmerzen aufdecken und Ansätze bieten, wie Betroffene einen gesunden Umgang mit dem Thema und so zu einem Leben mit weniger Schmerzen finden können. Dazu haben wir uns mit Constanze Pfefferle, Ärztin der Caspar Clinic mit Schwerpunkt Psychosomatische Medizin & Psychotherapie, unterhalten.
Sie bietet ihren Patient*innen, darunter auch viele, die an chronischen Schmerzen leiden, ständige Unterstützung an, sodass sie sich nicht mit ihren Schmerzen abfinden müssen. Aktivierung, Motivation und Begleitung von Betroffenen sind hier die Schlüsselworte.
Doch was sind chronische Schmerzen überhaupt? Generell wird ein Schmerz als chronisch eingestuft, wenn er seit mindestens drei Monaten anhält und/oder die normale Schmerzdauer einer Erkrankung deutlich übersteigt (Quelle). Die Deutsche Schmerzgesellschaft gestaltet den Begriff offener. Wichtig ist, dass Betroffene durch die Anerkennung als Krankheitsbild leichter Unterstützung und professionelle Hilfe bekommen können.
1. Mythos: Chronische Schmerzen haben immer auch eine körperliche Ursache
Das ist eindeutig falsch. Es gibt sogenannte “somatoforme” Schmerzstörungen. Bei diesen klagen Betroffene über Schmerzen, die an einer Stelle auftreten können oder auch an unterschiedlichen und für die keine körperliche Ursache gefunden werden kann. Untersuchungen zeigen, dass die diagnostischen Mittel der Schulmedizin (wie z.B. MRT der Lendenwirbelsäule) keine wegweisenden körperlichen Ursachen des Schmerzes ausmachen können. In diesem Fall sollte eine psychische Herkunft in Betracht gezogen werden.
Oftmals gibt es jedoch ein vorangegangenes Ereignis. Das kann ein Unfall, Abnutzungserscheinungen der Wirbelsäule oder auch der Zustand nach einer Operation sein. Dieses Ereignis bleibt bestehen und kann dann Schmerzen an der betroffenen Stelle verursachen. Auch hier spielen psychosoziale Gründe, wie familiäre oder finanzielle Belastungen, genereller Stress oder soziale Bedingungen, hohe Verantwortung im Job etc. eine große Rolle. Traumatische Belastungen, eine genetische Veranlagung oder auch wenn bereits psychische oder psychosomatische Vorerkrankungen bestehen – all das sind Risikofaktoren dafür, dass Schmerzen chronisch werden können.
2. Mythos: Alle Chronische Schmerzpatient*innen werden irgendwann depressiv
Auch diese Behauptung stimmt so nicht. Richtig ist, dass bei einigen Betroffenen, die an chronischen Schmerzen leiden, auch depressive Verstimmungen auftauchen können. Doch es ist oft nicht klar differenzierbar, ob die chronischen Schmerzen als Ursache dafür in Frage kommen oder der/die Patient*in nicht schon vorher psychisch belastet war. Oftmals gehen Schmerzpatient*innen einen langen Leidensweg, da ihnen nicht immer ad hoc geholfen werden kann. Die Ursachenforschung braucht dabei ihre Zeit und oft dauert es auch, bis eine konkrete Therapie in Angriff genommen werden kann.
Die meisten Betroffenen wissen nicht, wie Körper und Psyche zusammenspielen und verstehen zu Beginn oft noch nicht, warum sie sich mit ihren chronischen Schmerzen auch mit ihren begleitenden psychischen und sozialen Themen auseinandersetzen sollten. Hilfreich sind hier sogenannte Schmerztherapeut*innen. Das sind Fachärzt*innen aus ganz unterschiedlicher Fachrichtungen wie beispielsweise Anästhesie, Neurologie oder auch Psychosomatik mit einer zusätzlichen Weiterbildung in Schmerztherapie, die schon in ihrer Diagnostik psychosoziale Faktoren der Patient*innen berücksichtigen. In vielen Fällen hat es auch mit der fehlenden Verbindung zu sich selbst und dem eigenen Körper zu tun. Das kann depressive Verstimmungen begünstigen und wirkt sich zusätzlich belastend auf Patient*innen, die an chronischen Schmerzen leiden, aus.
Erschwerend kommt hinzu, dass es bei Schmerzen keine wirkliche Vermeidungsstrategie gibt. Bei unangenehmen Gerüchen kann man sich die Nase zuhalten, bei zu lauten Geräuschen die Ohren, doch bei immer wieder auftretenden oder anhaltenden Schmerzen sehen sich betroffene Patient*innen schnell in einer Art Ohnmacht der Situation ausgeliefert. Der Ärger über diese fehlende Kontrolle kann dazu führen, dass manche Betroffene es schlichtweg aufgeben, dass sich ihre Situation ändern wird. Ständiger Ärger kann zudem auch vorhandene Schmerzen verstärken. Wir Therapeut*innen sehen es als unsere Aufgabe, durch Motivation und dem Aufzeigen von alternativen Methoden dieser Haltung entgegenzuwirken. Wir stehen den Schmerzpatient*innen jederzeit als Ansprechpartner*in zur Verfügung und begleiten Sie durch die Rehabilitation oder Nachsorge.
Im Caspar Clinic Team möchte Constanze Pfefferle Patient*innen zur Seite stehen, die individuelle Unterstützung benötigen. Dabei hilft ihr das breite medizinische Fachwissen sowie ihre psychotherapeutische und psychologische Kenntnisse. Ihr Interesse gilt außerdem komplementärmedizinischen Themen und sie geht Dingen gerne auf den Grund.
3. Mythos: Bei chronischen Schmerzen hilft nur eine medikamentöse Behandlung
Aus eigener Erfahrung mit meinen Schmerzpatient*innen kann ich sagen: Das ist nicht der Fall! Viele Betroffene glauben wirklich daran, dass ausschließlich die verschriebenen Medikamente etwas bewirken können. Mehr noch: Sie kommen mit der Erwartungshaltung zu ihrem/ihrer behandelnden Ärztin, dass diese/r etwas tun soll, damit sie schmerzfrei werden. Oft sagen wir dann, dass wir etwas tun können – doch Medikamente sind hier nicht immer die richtige Lösung. Auch wenn es verständlich ist, sich davon eine schnelle Verbesserung zu erhoffen.
Andere Ansätze benötigen ein gewisses Maß an Eigeninitiative. Von Entspannungstechniken wie autogenem Training und progressiver Muskelentspannung über komplementärmedizinischen Heilmethoden wie Traditionelle chinesische Medizin (TCM) und Akupunktur bis hin zu Achtsamkeitstraining, Hypnose oder Yoga können Betroffene viele Dinge ausprobieren, die je nach Schmerzintensität und individueller Ausgangslage auch zu einer Linderung beitragen können. Eine persönliche, individuelle Betreuung halte ich in dem Fall für sehr wichtig. Ich sage meinen Patient*innen, dass sie nicht aufgeben und sich nicht mit den Schmerzen abfinden müssen. Ich gebe Tipps, was sie selbst tun aktiv können oder nehme sie auch an die Hand für den Fall, dass der/die ein oder ander*e mehr Unterstützung brauchen. Haben sie dann erste Erfolgserlebnisse oder etwas gefunden, das für sie funktioniert, kommt die Selbstmotivation oft von ganz alleine.
4. Mythos: Chronische Schmerzen sind immer an eine Art Teufelskreis gekoppelt, aus dem man schwer aussteigen kann
Ja, es gibt diesen Teufelskreis, doch auch hier lassen sich jede Menge Wege finden, wie man daraus aussteigen kann. Bei chronischen Schmerzen handelt es sich um ein Krankheitsbild, das ziemlich komplex ist, weil verschiedene Faktoren zusammenspielen und das Schmerzgeschehen dadurch beeinflussen. Das können zum Beispiel Schlafprobleme, Bewegungsmangel oder sogar ein sozialer Rückzug sein. Der große Vorteil hierbei ist, dass man bei so vielen Faktoren auch zahlreiche Ansatzpunkte findet, wie man die Gesamtkonstellation verbessern kann: Entspannungsmethoden für einen erholsamen Schlaf finden, für regelmäßige körperliche Aktivität sorgen, um einer Muskeldegeneration sowie Verspannungen vorzubeugen und viele andere Methoden, die dafür sorgen, dass es nicht zu einer Art Resignation, also zu einem “sich mit den chronischen Schmerzen abfinden”, kommt.
Auch wenn es sich für Betroffene erst mal so anfühlt, als könnten sie nichts gegen die Schmerzen tun, gibt es bei genauerem Hinsehen viele verschiedene Möglichkeiten, um aktiv etwas zu unternehmen und sich nicht nur auf Medikamente zu verlassen. Wichtig für Patient*innen mit chronischen Schmerzen ist, dass eine individuelle Anamnese gemacht wird, um gemeinsam mit der/dem behandelnden Therapeut*in zu schauen, wie Schmerzen gelindert, das Allgemeinbefinden verbessert und auf diese Weise zu mehr Lebensqualität zurückgefunden werden kann.
Vielen Dank, Constanze Pfefferle, für das tolle Interview!